Praxis vs. Theorie - Wie soll Jazz vermittelt werden?

Um diese Frage beantworten zu können müssen wir zunächst einmal die Entwicklung der Weitergabe von musikalischen Informationen im Jazz unter die Lupe nehmen.

Am Anfang stand die rein orale Verbreitung. Jemand hörte einen Musiker der ihm gefiel und versuchte über das Gehör und aus der Erinnerung sein Spiel zu imitieren. Wenn er Glück hatte konnte er seinen Meister oft in Konzerten hören oder hatte sogar persönlichen Kontakt.

Der nächste Schritt war ein Hybrid aus dem oben beschriebenen, ein paar praktischen Tipps (z.B. "immer wenn dieser Akkord kommt spiele ich diese Note") und aufgeschriebenen sogenannten Leadsheets also Melodien mit Akkorden. Spätestens seit den 40iger Jahren kannten sich die meisten Jazzmusiker ziemlich gut mit Harmonieabfolgen und Akkorderweiterungen aus. Der Jazz war jetzt auch eine intellektuelle Musik.Trotzdem stand das hören, die Imitation und die persönliche Weitergabe von musikalischen Informationen im Vordergrund.Im Laufe der Jahrzehnte nahm der Abstraktionsgrad des Jazz zu. Ebenso die theoretischen Kenntnisse der Jazzmusiker und ihre Instrumentale Ausbildung. Der Jazz wird seit den 70iger Jahren auch offiziell an Hochschulen unterrichtet. Das unterrichten des Jazz wird nun mehr und mehr auch zu einem Wirtschaftszweig.

Bücher über Theorie, Melodiebewegung, Phrasierung, Improvisation, Melodiephrasen u.v.m. werden veröffentlicht und im grossen Stil verkauft. Musiker sind Hauptberuflich Lehrer an Hochschulen und auf die Vermittlung von Jazz spezialisiert. Man versucht den Jazz besser erfassbar und somit auch einfacher erlernbar zu machen. Das Ergebnis ist relativ leicht zu durchschauen.

Viele der heutigen Musiker sind mit allen Wassern gewaschen. Durch die Effizienz der Lehre, schnellen Zugang zu musikalischen Techniken und deren klare und didaktisch ausgearbeitete Vermittlung können junge Musiker heute im Jazz Dinge spielen die vor Jahrzehnten noch undenkbar waren. Sie sind universell ausgebildet um perfekt auf alle Belange des Profimusikerdasiens vorbereitet zu sein und können eine grosse Anzahl an Stilen bedienen.

Aber halt! Etwas könnte ins Hintertreffen geraten sein: das Gehör, die musikalische Intuition und die Emotionalität.Tatsächlich beobachte ich derartige Tendenzen bei vielen Studierenden. Auch in der Lehre wird vermehrt auf die breite der Ausbildung hingearbeitet. Immer mehr Angebot, immer mehr Themen werden angerissen aber das meiste bleibt oberflächlich.In meiner langjährigen Lehrtätigkeit an der HSLU werde ich nun vermehrt mit Klagen von Studierenden konfrontiert sie hätten zu viele Kurse und Prüfungen die sie zu bewältigen hätten und zu wenig Zeit ihr Instrument zu üben. Gleichzeitig beobachte ich einen Rückgangder Improvisationsfertigkeiten, Instrumentale Defizite und weniger persönlichen Ausdruck. Hier kommen viele Faktoren zusammen die wir uns an der HSLU überdenken sollten. Wäre es nicht besser die Effizienz zugunsten der Tiefe und dadurch bedingten Langsamkeit zu tauschen? Weniger Informationen, mehr Eigenarbeit, Eigeninitiative und weniger Vorgaben um das spannende und persönliche selber zu entdecken und sich zu eigen zu machen.Das hätte eine stärkere Identifikation mit der Musik, dem Studiengang zur Folge. Die Studierenden würden die Musik, die sie spielen mehr fühlen wenn wir ihnen mehr Zeit und Freiräume gäben sie für sich zu erfahren. Dazu gehört auch nicht auf alles immer eine perfekt geschliffene Antwort parat zu haben. Es geht hier nicht um eine Initiative gegen die Theorielehre und auch nicht um Parolen wie : "weg mit den Notenständern". Wichtig wäre aus meiner Sicht all diese Bereiche besser zu verkoppeln und unmittelbar in der Praxis zur Anwendung zu bringen.

Einem improvisierenden Musiker bringt es nichts wenn er theoretische Kenntnisse hat die er nicht intuitiv anwenden kann. Das gilt auch für die Gehörbildung. Musiker müssen mit Ihren Instrumenten in "real time" auf musikalische Situationen reagieren können auch ohne zu wissen was für ein Akkord oder Intervall gerade gespielt wird. Das braucht viel Übung und Zeit am Instrument. Wenn wir nicht aufpassen gerät die Besonderheit der Improvisierten Musik und des Jazz in Vergessenheit: Gefühl, Spontanität, Intuition und Improvisation. Diese Faktoren müssen mit theoretischen Kenntnissen, Gehörbildung und weiteren nützlichen Kursen unterstützt werden.

Keinesfalls dürfen diese Kurse zum Selbstzweck mutieren. Darum mein Pledo: gebt den Jazzstudierenden wieder mehr Freiheit und mehr Zeit. Speckt den Stundenplan ab und versucht nicht alles vorzuplanen. Es wird sich positiv auf diese wunderbare Musik auswirken.